"Und fragt uns nicht, wieso?"
Batsheva Dagan, Michael Goldmann-Gilead, Jacov Tsur und Noah Klieger, alle an die 90 Jahre alt, kamen auf Einladung der Projektgruppe "Kriegsgräber" der Europaschule Rövershagen nach Deutschland. Sie erzählten vor interessierten Bürgern der Gemeinde Gelbensande, vor Schülern der Europaschule Rövershagen, vor Studenten der Universität Rostock und vor Jugendlichen und Gästen im Schweriner Landtag aus ihrem Leben und vom Überleben. Sie gehören zu den letzten Zeugen der Shoah. Alle vier eint der Gedanke: Weiter erzählen, immer wieder und überall.
Das Projekt wurde unterstützt und gefördert durch:
- Heidetreff Gelbensande
- Gemeinde Gelbensande und Ostseebad Graal-Müritz
- Stiftung EVZ
- Landtag Mecklenburg-Vorpommern und die demokratischen Fraktionen im Landtag Mecklenburg-Vorpommern: SPD, CDU, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
- Stiftung Bundestagsfraktion DIE LINKE
- Volksbund
- Projektgruppe "Kriegsgräber" Europaschule Rövershagen
In den folgenden beiden Artikeln schildern zwei Schüler unserer Schule ihre Eindrücke:
In die Augen eines Zeitzeugen sehen (Autor: Richard Schivelbein)
Michael Goldmann-Gilead ist so ein Zeitzeuge. Und er war ein Opfer. Aber er hat überlebt und uns, der zwölften Klasse, am Dienstag, den 26. 11. 2013, davon erzählt, was seine Augen erblickt haben. Als das Gespräch beginnt, sitzen wir in einem großen Stuhlkreis, wir waren einige Dutzend, mit Goldmann-Gilead zusammen, der sich zunächst vorstellt und sogar einen Witz über seine nachlassenden Deutschkenntnisse macht. Ein sehr angenehmer Einstieg. Er verweist darauf, dass er zu unserer Verfügung stehe, was heißen soll, dass er auf Fragen unsererseits wartet. Die erste bezieht sich auf seine Kindheit und Jugend. Goldmann-Gilead schildert daraufhin seine Kindheit als Sohn eines Milchhändlers in Polen. Als der Krieg dann zu ihnen kam, seien sie schnell getrennt und deportiert worden. Goldmann-Gilead habe erst später erfahren, dass alle seine Angehörigen, bis auf seinen in der Roten Armee dienenden Bruder, getötet worden seien. Schlussendlich sei er dann nach Auschwitz gebracht worden, wo, wie er uns offenbart, der Tod allgegenwärtig gewesen sei. Zitat: "Ich habe mehr Tote als Lebende gesehen." Man habe täglich auf eine Veränderung, eine Rettung vor dem Grauen gehofft, aber nie wirklich daran glauben können. Als dann die Rote Armee immer näher rückte, haben sich die Wärter alle gehfähigen Häftlinge gegriffen und seien zu einem "Todesmarsch" aufgebrochen. Man hätte während des Marsches als Häftling folgende Optionen gehabt: Weiterzumarschieren bis man vor Erschöpfung stirbt. Sich hinzusetzen, um auf eine Kugel der SS-Leute zu warten. Oder zu fliehen- und genau dazu habe sich Michael Goldmann-Gilead entschieden. Und die Art und Weise wie ihm und einem Mithäftling, zum dem er noch heute freundschaftlichen Kontakt habe, die Flucht gelang, war schlichtweg unfassbar. Sie legten sich, so erzählt er, wie tot in den Schnee und warteten darauf, dass der Marsch weiterzöge, und wären dann zu einem kleinen Hof gelaufen, um sich auf dem Heuboden zu verstecken. Als dann später SS-Leute bei der Hausbewohnerin nach Entflohenen fragten, habe sie diese auf eine falsche Fährte geführt und den beiden so das Leben gerettet. Auch zu ihr hätte er immer noch guten Kontakt. Im Verlauf des Gespräches erfahren wir außerdem, dass Goldmann-Gilead, der ja beim "Eichmann-Prozess" zugegen war, den ehemaligen Hauptkoordinator der Judendeportation, als überraschend jämmerlichen Menschen in Erinnerung hat. Dies ist sein einprägsamster Eindruck, wenn er an den Prozess zurückdenkt.
Am Ende muss man feststellen, dass solche Zeitzeugengespräche absolut notwendig und unglaublich wertvoll sind, wenn man die schreckliche Realität von damals wirklich bedingungslos und schonungslos erfassen will. Wie man sich als Jude, Sinti oder Roma damals wirklich gefühlt hat, kann wahrscheinlich niemand hundertprozentig nachempfinden. Und das würde Michael Goldmann-Gilead sicher auch niemandem wünschen. Aber ich begreife zumindest mehr von diesem Grauen als in jeder Doku oder in jedem Buch, wenn ich in Goldmann-Gileads Augen sehe, wenn er davon spricht, dass er nicht verstehen kann, warum Gott ihn lebend durch diese Hölle geführt hat, aber nicht sein "kleines Schwesterchen".
Ein wertvoller Tag (Autor: Sebastian Pietsch)
Als sie eintrafen entstand eine beeindruckende Stimmung, die sich durch eine ungewöhnliche Stille bemerkbar machte. Ungewöhnlich, weil fast 100 Schüler aus verschiedenen Klassen bei dieser Einführungsveranstaltung dabei waren, und Schüler sind selten so ruhig wie bei dieser Veranstaltung. Das zeigte den großen Respekt, den wir Schüler unseren vier Gästen entgegenbrachten. Alle saugten die Wörter von Noah Klieger auf. Er eröffnete die Gesprächsrunde. Mit seiner humorvollen Art brach er das Eis, das bei einem so wichtigen Thema zwangsläufig vorhanden ist. Batscheva Dagan übernahm dann und erzählte, was sie erleben musste. Michael Goldmann-Gilead griff ihre Gedanken auf und begann zu erzählen ohne sich vorzustellen. Das war aber nicht schlimm, da die meisten von uns im Vorfeld auf das Treffen vorbereitet wurden. Es existierten nur die Erzähler und was sie sagten, die Welt draußen verlosch. Den Schluss machte Jacov Tsur, der so vertieft in seinem Bericht war, dass er die Zeit vergaß. Er musste schließlich leider unterbrochen werden, da die Zeit knapp wurde, denn nach der Einführungsveranstaltung sollte in kleineren Gruppen mit unseren Gästen weiter über das Thema gesprochen werden.
NDR1-Hörbeiträge zum Projekt: